Die geopolitischen Spannungen und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland haben die Energiepolitik der Europäischen Union in den letzten Jahren erheblich beeinflusst. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 haben die EU-Mitgliedstaaten ihre Abhängigkeit von russischem Gas drastisch reduziert. Dennoch zeigen aktuelle Zahlen, dass Russland weiterhin eine bedeutende Rolle als Gaslieferant spielt. Im zweiten Quartal 2024 übertraf der Gasimport aus Russland sogar den aus den USA. In diesem Artikel beleuchten wir die Hintergründe, die aktuellen Entwicklungen und die zukünftigen Perspektiven der Gasimporte in die EU.
Die Bedeutung der Gasimporte für die Europäische Union
Die Europäische Union ist stark von Gasimporten abhängig, um ihren Energiebedarf zu decken. Traditionell war Russland der grösste Lieferant von Erdgas nach Europa. Vor dem Krieg in der Ukraine lieferte Russland etwa 40 % des gesamten Erdgasbedarfs der EU. Mit dem Einmarsch in die Ukraine und den daraufhin verhängten Sanktionen durch die EU änderte sich diese Situation drastisch. Die EU bemühte sich, ihre Energiequellen zu diversifizieren, und erhöhte insbesondere die Importe von Flüssigerdgas (LNG) aus den USA und anderen Ländern.
Die aktuellen Importzahlen: Russland überholt die USA
Laut aktuellen Daten der Brüsseler Beratungsgesellschaft Bruegel importierten die EU-Staaten im zweiten Quartal 2024 erstmals seit fast zwei Jahren wieder mehr Gas aus Russland als aus den USA. Konkret betrugen die Importe aus Russland 12,7 Milliarden Kubikmeter, während die Importe aus den USA bei 12,3 Milliarden Kubikmetern lagen. Im Vergleich zum ersten Quartal 2024 sind die Gaslieferungen aus Russland zwar leicht gesunken, doch die Importe aus den USA gingen noch stärker zurück.
Die folgende Tabelle zeigt die Gasimporte der EU im zweiten Quartal 2024 im Vergleich zu den ersten Quartalen 2023 und 2024:
Lieferant | Q1 2023 (Mrd. m³) | Q1 2024 (Mrd. m³) | Q2 2024 (Mrd. m³) |
---|---|---|---|
Norwegen | 24,5 | 24,2 | 23,9 |
Russland | 14,1 | 13,0 | 12,7 |
USA | 14,3 | 13,7 | 12,3 |
Die geopolitischen Hintergründe der Gasimporte
Der Einfluss des Ukraine-Kriegs
Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs hat die EU zahlreiche Sanktionen gegen Russland verhängt, um die russische Wirtschaft zu schwächen und den Druck auf die Regierung in Moskau zu erhöhen. Ein wichtiger Aspekt dieser Sanktionen war die Reduzierung der Energieimporte aus Russland, um die Abhängigkeit von russischen Energieressourcen zu minimieren. Dennoch bleibt Russland weiterhin ein wichtiger Akteur auf dem europäischen Gasmarkt.
Die Rolle Norwegens und der USA
Norwegen hat sich als wichtigster Gaslieferant der EU etabliert und liegt mit 23,9 Milliarden Kubikmetern im zweiten Quartal 2024 deutlich vor Russland und den USA. Die USA, die ihr LNG-Angebot in den letzten Jahren stark ausgebaut haben, spielten eine entscheidende Rolle bei der Diversifizierung der europäischen Gasversorgung. Doch trotz der steigenden LNG-Importe aus den USA konnte Russland im zweiten Quartal 2024 mehr Gas in die EU liefern als die Vereinigten Staaten.
Transit durch die Ukraine und den türkischen Stream
Die Gaslieferungen aus Russland erfolgen über verschiedene Routen, darunter der Transit durch die Ukraine und der türkische Stream. Trotz der Spannungen und des anhaltenden Kriegs in der Ukraine blieb der Gastransit durch das ukrainische Territorium bis Mitte 2024 weitgehend intakt. Allerdings ist unsicher, wie lange diese Route noch bestehen bleibt, da die Ukraine angekündigt hat, den Gastransitvertrag mit Gazprom nach 2024 nicht zu verlängern. Der türkische Stream stellt eine weitere wichtige Route für russische Gaslieferungen nach Europa dar und bleibt eine strategisch wichtige Verbindung.
Wirtschaftliche und politische Implikationen
Die Forderung nach einem Importverbot
Angesichts der anhaltenden Gasimporte aus Russland trotz des Ukraine-Kriegs fordern Politiker in Europa ein konsequenteres Vorgehen. Der CDU-Aussenpolitiker Norbert Röttgen hat ein EU-weites Importverbot für russisches Gas gefordert. Er argumentiert, dass die europäischen Länder durch den Kauf von russischem Gas indirekt den Krieg in der Ukraine finanzieren und dies weder verantwortungsvoll noch glaubwürdig sei.
Diskussion um einen Preiszuschlag auf russisches Gas
Der energiepolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Michael Kruse, schlug vor, einen Preiszuschlag auf russisches Gas zu erheben. Mit den zusätzlichen Einnahmen könnte die EU ihre Hilfs- und Waffenlieferungen an die Ukraine finanzieren. Dieser Vorschlag zielt darauf ab, die Kosten des Krieges für Russland zu erhöhen und gleichzeitig die Unterstützung für die Ukraine auszubauen.
Zukunftsperspektiven der europäischen Gasversorgung
Die Unsicherheit der Gasversorgung
Die Unsicherheit über die zukünftige Gasversorgung der EU bleibt bestehen, insbesondere im Hinblick auf den russischen Gastransit durch die Ukraine. Sollte der Vertrag zwischen Gazprom und Naftogaz nach 2024 nicht verlängert werden, könnten alternative Routen oder andere Lieferanten erforderlich werden, um die Gasversorgung der EU sicherzustellen. Planungsunsicherheit für Unternehmen ist ein gravierender Standortnachteil, ganz besonders bei Energie.
Die Rolle erneuerbarer Energien
Parallel zu den Bemühungen, die Gasversorgung zu diversifizieren, treibt die EU ihre Pläne für den Ausbau erneuerbarer Energien voran. Der Übergang zu einer klimaneutralen Energieversorgung bis 2050 ist ein zentrales Ziel der EU-Energiepolitik. Die Förderung von Solar-, Wind- und Wasserkraft sowie der Ausbau der Wasserstofftechnologie könnten langfristig dazu beitragen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und damit auch von Gasimporten zu reduzieren.
Potenzial neuer Lieferanten
Neben den traditionellen Gaslieferanten wie Norwegen, Russland und den USA, könnte die EU in Zukunft auch auf andere Länder als Lieferanten setzen. Länder wie Katar, Algerien und Australien haben ihr Interesse bekundet, ihre LNG-Exporte nach Europa zu steigern. Diese Entwicklungen könnten dazu beitragen, die Versorgungssicherheit der EU weiter zu erhöhen und die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zu verringern.
Fazit
Die Gasimporte der EU stehen im Spannungsfeld zwischen geopolitischen Herausforderungen, wirtschaftlichen Interessen und dem Ziel einer nachhaltigen Energieversorgung. Trotz der Sanktionen gegen Russland bleibt das Land ein wichtiger Gaslieferant für Europa, wie die aktuellen Importzahlen zeigen. Die EU steht vor der Aufgabe, ihre Energieversorgung sicherzustellen und gleichzeitig ihre politischen und moralischen Verpflichtungen gegenüber der Ukraine und der globalen Gemeinschaft zu erfüllen. Die Zukunft der europäischen Gasversorgung wird massgeblich davon abhängen, wie erfolgreich es der EU gelingt, alternative Energiequellen zu erschliessen und ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren.
Quellen
- Bruegel, Beratungsgesellschaft: Aktuelle Daten zu den Gasimporten der EU, 2024.
- Statistisches Bundesamt Deutschland: Daten zu den Gasimporten aus Russland, 2024.
- Welt am Sonntag: Bericht über die Gasimporte der EU im zweiten Quartal 2024.
- Die Welt: Bericht über die Gaslieferungen aus Russland und den USA, August 2024.
- Handelsblatt: Diskussion über einen möglichen neuen Vertrag zwischen der EU und Gazprom, Juli 2024.
- Präsident der Ukraine, Volodymyr Zelensky: Erklärung zur Beendigung des Gastransitvertrags, August 2024.
- Gazprom und ENTSOG: Daten zu den Pipeline-Exporten russischen Gases nach Europa, März 2024.
Die genannten Quellen liefern eine fundierte Grundlage für die Analyse der aktuellen und zukünftigen Entwicklungen in der europäischen Gasversorgung.
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